Unter Dampf - Quelle: Lufthansa Magazin

Die ungarische Kurstadt Hévíz ist berühmt für ihren schwefelhaltigen Thermalsee und ihre teils eigentümlichen Therapien – Chronik eines Selbstversuchs

Unter Dampf - Quelle: Lufthansa Magazin

 

Teufel selbst hat einst die Felder in dieser Gegend bestellt. Doch die Arbeit war so mühselig, dass der Leibhaftige die Pflugschar wutentbrannt zu Boden schleuderte. Sie schoss tief in die Erde, und seit jenem Tag sprudelt dort warmes Wasser aus einer Quelle und speist einen Thermalsee. So erzählt es eine ungarische Sage.

Die Realität an diesem frühen Herbstmorgen in der Kleinstadt Hévíz ist weniger dramatisch: 14 Grad und leichter Nieselregen. Nach einer kühlen Nacht liegen der tiefblaue See und das Badehaus mit den spitzen Holztürmchen, das auf Stelzen in seiner Mitte ruht, in weißem Dunst. Es sieht aus wie in einem Disney-Film – doch es riecht wie in einer Schwefelmine.

In Badehose warte ich bibbernd am Ufer. Ich soll erst in den See eintauchen, wenn ein Bademeister da ist – zur Sicherheit. Denn manch einem sei es im Wasser schon schummrig geworden, wegen der Gase. Probeweise halte ich einen großen Zeh hinein: tatsächlich lauwarm. Als wenig später mein potenzieller Lebensretter in Sicht kommt, gleite ich in den See wie ein Fisch, der endlich zurück darf in sein Element. Gemächlich schwimme ich vorbei an Seerosen und tiefer hinein in die Märchenlandschaft. Irgendwo unter mir liegt der geologische Ursprung des Phänomens:

 

Autor Mathias Becker im Thermalsee

Ein Felsspalt in 38 Meter Tiefe spuckt jede Sekunde 410 Liter mineralienreiches Wasser aus, von der Erdwärme mollig aufgeheizt. Im Sommer beträgt seine Temperatur deshalb bis zu 38 Grad, im Winter fällt sie nicht unter 24 Grad. Ob Rheuma oder Rückenschmerzen: Regelmäßige Bäder im See sollen Schmerzen lindern, Trinkkuren bei Magen- oder Darmproblemen helfen.

Mittlerweile hat sich der Nebel verzogen, die ersten Badegäste des Tages steigen in den See. Fast jeder trägt eine bunte Schaumstoffnudel um die Hüfte geschnallt. Das sieht albern aus, sorgt aber für Auftrieb – und gibt Sicherheit, wenn es einen schwindelt. Länger als eine halbe Stunde soll man ohnehin nicht im Wasser treiben, wer Herz- oder Kreislaufprobleme hat, muss ganz darauf verzichten. Langsam schwimme ich zurück, dann mache ich es mir im Badehaus auf einer der Liegen rund um die Innenbecken bequem. Der See hat mich müde gemacht.

Mit mehr als vier Hektar Wasseroberfläche ist dieser Thermalsee der größte weltweit, in dem man baden kann. In Neuseeland gibt es einen ähnlich großen, doch der eignet sich – bei Temperaturen zwischen 50 und 60 Grad – eher zum Dünsten von Gemüse. Das Seebad von Hévíz hingegen gleicht selbst bei Frost einer warmen Wanne und macht den Ort am Westufer des Plattensees zu Ungarns bevorzugtem Pilgerort bei Rückenund Gelenkbeschwerden. Dabei ist die einheimische Konkurrenz groß. Von den berühmten türkischen Bädern in Budapest über das Höhlenbad von Miskolc, in dem man durch dämmrige Stollen schwimmt, bis zu einem der größten Thermalbäder Europas in Hajdúszoboszló: Mit mehr als 1300 Thermalquellen ist das Land in der Pannonischen Tiefebene ein Hotspot in Sachen Heilwasser.

 

beim Unterwasserstreckbad sollen Rückenleiden gelindert werden

Manche Quelle wurde erst entdeckt, als man nach Öl bohrte. Im warmen Wasser von Hévíz dagegen plantschten schon die Römer. Nach ihrem Reich ging bald auch die Badekultur unter – und erst Ende des 18. Jahrhunderts kehrte sie zurück. Zunächst kamen Adel und Bürgertum, im Kommunismus kurte hier die Arbeiterklasse. Ausgerechnet Parteibonzen sollen dem Spaß unfreiwillig ein Ende gemacht haben: Während einer ihrer Saunapartys fing das hölzerne Badehaus Feuer und brannte nieder. Neu erbaut und wiedereröffnet wurde es 1989, pünktlich zur Wende: Das alte politische System verschwand, Hévíz blieb bestehen und blühte auf. Mehr als eine Million Übernachtungen zählte die Stadt 2017.

Etwa 40 Prozent der Gäste sind Ungarn, die übrigen kommen aus ganz Europa. Um das Seebad ist längst eine Wohlfühlindustrie entstanden, mit Massage- und Beautysalons. Hotels haben Spas eingerichtet, einige fluten ihre Pools mit dem Thermalwasser. Um der ungebrochenen Begeisterung für Hévíz auf die Spur zu kommen, habe ich mich für einige traditionelle Hévízer Heilmethoden angemeldet.

Neben Heilschwimmen empfehlen die Ärzte ausgedehnte Waldspaziergänge

Zunächst: das Schlammbad. Ich steige eine Treppe hinab in den See, in eine darin verankerte Stahlwanne, groß wie ein Gartenpool. Nach ein paar Schritten reicht mir der schwere Schlamm, der bei jedem Schritt blubbernd schmatzt, schon bis zu den Oberschenkeln, als ich mich setze, bis zum Bauchnabel. Eine Frau neben mir greift nach der körnigen, penetrant riechenden Masse und verteilt sie sich genüsslich im Gesicht und auf den Schultern. Beherzt mache ich es ihr nach. Am Abend merke ich, dass meine Haut sich ungewohnt weich anfühlt, in dieser Nacht schlafe ich so tief wie lange nicht mehr.

Am nächsten Morgen erwache ich, erfüllt von Bewegungsdrang und Bärenhunger. Nach dem Frühstück habe ich einen Massagetermin im Wellness- und Therapiebereich.

Stefania Bajer begrüßt mich mit einem kräftigen Händedruck. Binnen 20 Minuten walkt die Heil- und Sportmasseurin mit dem strengen Undercut meine Muskulatur so gezielt durch, dass ich noch Tage später ein durchaus wohltuendes Ziehen im Rücken spüre. Ich frage sie, ob mein Rücken so weit in Ordnung sei. Ich bin 40 Jahre alt, jogge ab und an, hocke aber meist vorm Computer. Schmerzen habe ich keine – bisher. „Sie müssen mehr Sport machen“, sagt Stefania Bajer energisch, „viel mehr!“ Wohin Bewegungsarmut führen kann, erfahre ich wenig später in einem der Becken im Badehaus, beim „Streckbad“. Dabei hängen Patienten mit Rückenleiden im Wasser, fixiert in einer Art Geschirr unter den Armen oder am Hals, damit sie sich nicht rühren. Zugleich ziehen Gewichte an den Hüften die Wirbelsäule minimal auseinander und entlasten die Bandscheiben. 1953 von dem Hévízer Arzt Károly Moll entwickelt, wird diese Therapie bis heute erfolgreich bei Bandscheibenproblemen angewendet. Da meine Bandscheiben unauffällig sind, darf ich mit nur wenig Ballast ins Wasser, quasi zur Schnuppertherapie.

Autor Mathias Becker genießt das Schlammbad

Meine Arme lagern auf einer Art Unterwasser-Reck; zwei mal drei Kilo Stahl, an einem Gurt befestigt, ziehen mich hinab. Meine Füße treten ins Leere. „Harascho?“ Auf Russisch fragt Stefania Bajer den jungen Mann neben mir, ob es ihm gut gehe. Er sieht aber nicht so aus: Mein Nachbar trägt eine Halskrause wie nach einem Auffahrunfall, zwei Metallbügel legen sich darüber und halten seinen Kopf über Wasser. Er schnauft leise, „Harascho …“. Als wir nach 20 Minuten das Becken verlassen, erzählt mir Anton Marukhin, dass er 28 Jahre alt ist, bei Moskau lebt, Werbe- und Musikvideos produziert und unter Rückenschmerzen leidet. „Ich sitze viel, vielleicht kommt es daher“, sagt er. Die Ärzte in Russland konnten ihm nicht helfen, also haben seine Eltern ihn nach Hévíz geschickt – dessen heilkräftiger Ruf reicht weit über Ungarns Grenzen hinaus.

Einer der Männer, die Schmerzpatienten wie Marukhin helfen wollen, ist  Dr. Gábor Domokos. Der Facharzt für Rheumatologie und Physiotherapie leitet in Hévíz den Wellness- und Therapiebereich des Seebads. Er trägt weiße Sneaker zum weißen Kittel, ist 68 Jahre alt, wirkt aber deutlich jünger. Was nicht am Baden im See liegt, sagt er – er fahre auch viel Fahrrad und wandere in den Bergen am Balaton. Überhaupt dürfe man dem Seewasser allein nicht zu viel Bedeutung beimessen. Denn wie die Mineralien wirken, sei physiologisch nicht exakt geklärt, sagt Domokos.

Dr. Gábor Domokos  leitet den Wellnessund Therapiebereich des  Seebads; echter Matscho:

„Doch wir wissen, dass es vielen Menschen, die mit chronischen Schmerzen zu uns gekommen sind, nach der Kur besser geht.“ Das Erfolgsgeheimnis sei wohl das Gesamtpaket: die Bewegung im warmen Wasser, vielleicht auch dessen Zusammensetzung. Dann die Ruhe, die langen Waldspaziergänge, neuerdings „Waldbaden“ genannt, Physiotherapie, gutes, gesundes Essen.

Und der Schlaf, denke ich.

Zum Abschluss teste ich die Schlammpackung: Ich werde auf dem Rücken liegend von Hals bis Fuß mit der warmen Masse bedeckt und dann in Folie und Tücher gewickelt wie ein Serviettenknödel.

Der Schlamm lastet schwer auf meinem Körper. Keine Minute später bin ich – wieder mal – weggedöst. Als ich ein paar Tage später zu Hause meinen Koffer öffne, entsteigt ihm eine Wolke Schwefeldunst. Ein animierender Duft. Ich ziehe meine Joggingschuhe an und gehe eine Runde laufen. Das nächste Schwefelbad kann warten.

ZUM ZIEL: Lufthansa fliegt im Februar bis zu sechsmal täglich von Frankfurt (FRA) und bis zu fünfmal täglich von München (MUC) nach Budapest (BUD).

Der See ist von viel Grün umgeben

 

Quelle: Lufthansa Magazin (LHM 2/19) Autor: Mathias Becker | Fotos: Ramon Haindl

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